Die Überflüssigen [Carp, Bude]

Die großen gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen in den letzten 20, 30 Jahren schlossen eine immer größere Zahl von Menschen in den modernen Staaten vom allgemeinen Wohlstand und von nahezu jeglicher gesellschaftlicher Teilhabe aus.
„Es gibt soziale Zonen in unserer Gesellschaft, bei deren Betrachtung sich die Frage aufdrängt, was für ein Leben das ist“, Soziale Exklusion nennen Soziologen wie Bude diese Entwicklung und betrachten die immer größere Zahl von sozial „untoten“ Menschen mit Sorge. Stefanie Carp, von 2005 bis 2007 Chefdramaturgin der Berliner Volksbühne, spitzt die soziologischen Diskurse in einer in der damaligen Zeit entstandenen Publikation des Theaters zu: „Das Überflüssige,“ so schreibt sie, „muss man entsorgen. Wir sind derzeit mehr oder weniger weltweit davon überzeugt, dass der Darwinismus der freien Marktwirtschaft das Vernünftigste ist, das Praktischste, weil sich Produktion und Nachfrage nach dem Gesetz der Artenentwicklung von selber regeln. Überflüssig ist das Unverkäufliche. Unverkäuflich ist, was keinen Profit macht.“

Problematisch in der selbstreferenziellen, alles umschließenden Logik des Marktes seien lediglich die überkommenen, von der selben, auf liberalistische und demokratische Werte sich berufenden Gesellschaft getragenen Definitionen des Menschen und seiner Würde. „Was passiert mit den Menschen“, fragt Carp, „die in das Billiglohn- und Billigmarktsystem nicht passen, deren Arbeitskraft auf dem Markt nicht mehr verkäuflich ist?“ Und treibt ihre Überlegungen in folgende, grimmige Zukunftsvision:

Historisch hat bisher nur der Faschismus eine Legitimationsstrategie gefunden, die Überflüssigen abzuschaffen. Vielleicht gelingt es uns, heute und in Zukunft eine ähnliche Legitimation zu finden, die praktisch als Faschismus funktioniert, aber Demokratie und freie Marktwirtschaft genannt wird. … Der historische Faschismus hat für die Tötungslegitimation mit ethnischer Zugehörigkeit und mit Biologie argumentiert. Rassische und soziale Qualitäten wurden genetisch begründet und über die genetische Begründung wurde Exklusion betrieben. Die exkludierten Menschen fielen nicht mehr unter die Menschenrechte. Legitimationsstrategien, die Menschen unterschiedlicher Klassen mit unterschiedlichen Rechten begründen, die also, ohne Ausnahmezustände auszurufen, das Tötungsverbot teilweise aufheben können, sind heute vorstellbar. (Oder sind sie schon Praxis, und wir wollen es nicht wissen, weil wir zu denen gehören wollen, die ethisch nach erster Klasse behandelt werden müssen?) …
Eine Unterteilung der Menschen in solche, die unter die Humanitätsverabredungen fallen, und solche, für die diese Verabredungen nicht gelten, wird biogenetisch getroffen werden. Sie wird ein Teil des Marktes sein. Sie wird nicht als Totalitarismus funktionieren. Mit einer solchen Unterscheidung wäre es möglich, einen Teil der Menschen oder Teile der nicht mehr brauchbaren Biografie von Menschen zu entsorgen. Man kann sich verschiedene Szenarien vorstellen: Zum Beispiel der überflüssige Teil der Menschen wird grundversorgt mit der Auflage, sich medizinisch zu pflegen und nach dem Ableben seine Organe und andere Ersatzteile zur Verfügung zu stellen. Oder: Die Menschen zweiter Klasse werden auf unterster Stufe am Leben gelassen, ohne Anspruch auf irgendetwas; oder sie werden eben als „nicht mehr Menschen“ definiert, für die das Tötungsverbot nicht gilt. 

Zitate aus: Heinz Bude, „Exklusion als soziale Erfahrung und politischer Begriff“ und Stefanie Carp, „Das Überflüssige“; beide in: Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin (Hg.): Die Überflüssigen, Berlin 2006.