Georg Seeßlen

Georg Seeßlen/Markus Metz: Der Untote in der Krise - Unentschlossen

Eine der größten Pointen der Postdemokratie ist die Politisierung der Biologie und die Biologisierung der Politik.Damit verlieren Begriffe wie „Leben“ und „Tod“ ihre Unschuld. Und insbesondere der Übergang, die twilight zone von Sterben und Nicht-Sterben wird zum umkämpften Terrain.Nicht-Sterben bedeutet nämlich stets einen Teil der Souveränität abzugeben, an den Arzt, das Krankenhaus, die Krankenkassen, die kosmetische und pharmazeutische Industrie, die Chemie, die Droge, die Maschine, das Kollektiv, die Bürokratie, die Politik... Diese „abgegebene“ Macht klumpt sich im Außen der Gesellschaft gegen das Subjekt zusammen. Untot sein heißt also immer: Macht abgeben und zugleich Macht schaffen. (Wie so oft beginnt und endet sie mit der Macht der „Definition“, mit der Macht über die Begriffe selbst. Wer sagt, was Leben ist? Wer sagt, was Mensch ist? Wer sagt, was tot ist? Hier viel mehr als im vorgeblich Metaphysisch-Moralischen beginnt das Unheimliche.) In der klassischen Medizin konnte das Ziel der Heilung darin bestehen, den Menschen vollständig als Subjekt wiederherzustellen (nahezu identisch mit sich selbst vor der Krankheit, vor der Verwundung, vor der Krise): Er kehrt zurück ins Leben (selbst wenn er einen Arm verloren hat, zum Beispiel). Die Macht, die er vorübergehend abgegeben hat (gern auch in der Form einer Reise in jenseitige Gefilde, Begegnungen mit dem Tod, Läuterungen oder wenigstens erotische Konnotation zwischen Arzt/Ärztin und Held/Heldin), kehrt sogar mehr als vollständig zum Subjekt zurück; möglicherweise ist es erst durch die Krise der Krankheit vollständig geworden, so will es der Mythos immerhin. 

Untot in den allerverschiedensten Weisen ist jener, zu dem nach der Krise die Macht nicht vollständig zurückkehrt, weil sie entweder vom freien Willen abgekoppelt, an eine äußere Instanz abgegeben, eine „Fernsteuerung“, eine „Maschine“, oder aber weil sie nun mit einem reinen Zwang verbunden ist (und sei’s der Zwang, die echten Lebenden aufzufressen, wie es die Zombies tun). 

Im Tausch für das Leben hat der Untote einen Teil seiner Subjekt-Wertigkeit abgegeben. Die moralisch-psychologische Frage scheint in erster Linie: Wie sieht solch ein zugleich unvollständiges und überfülltes Subjekt aus (wie sehr ist es nur als Kollektiv lebensfähig oder als Teil einer Maschine, oder als Mischwesen, das über einen Teil seiner Aktionen und Reaktionen keine Verfügung mehr hat usw.)? Die politisch-ökonomische Frage freilich, die viel weniger gestellt wird: Wo geht diese Macht, die dem Subjekt entzogen wird (auch wenn es sich zugleich übermächtig fühlt, da es ja den Tod bezwungen hat), nach dieser Transformation hin? 

Die Herstellung des Untoten ist die zugleich erhabene und groteske Ausformung von Biomacht. Sie stellt nicht nur „Herrschaft über Leben und Tod“ her (nicht im Sinne der Herrschaft, nicht einmal im Sinne der „Halbgötter in weiß“, sondern im Sinn der menschlichen Vernunft), sie produziert vielmehr Leben und Tod als Herrschaft. Herrschaft bedeutet nun nicht mehr allein, das Leben zu beenden (und sei es als bürokratischen Akt der Verweigerung von Medizin und Nahrung) oder es gnädig zu „gewähren“. Herrschaft bedeutet Leben zu erzeugen (unter anderem als Macht-Transfer). Daher ist Biomacht bis zu einem gewissen Grad der Revolte entzogen, denn sie ist ja nicht lebensfeindlich sondern durchaus lebensbejahend, lebenszeugend.  (Der Witz daran ist natürlich, dass für diesen Prozess nicht jene „gewöhnliche“ Geschichte benötigt wird, die mit Darwin zu einer Theorie des Ganzen werden konnte.)

Der untote Mensch tritt also nicht nur aus der Schöpfungsgeschichte heraus, er ist nicht, was sich als Nach-Mensch über einen Zeitraum entwickelt, sondern er ist, was eine unscharfe Herrschaft als solchen bestimmt. (Tatsächlich ist die Überraschung wie die Totalität offenbar, was seine Vorstellbarkeit anbelangt, ein Wesensmerkmal: Wo dieser untote Mensch auftaucht, muss nicht nur das Subjekt, sondern es müssen stets zugleich seine primären Medien, die Zeit, der Raum, das Objekt, neu definiert werden.

Untot ist also nicht nur, was zwischen Leben und Sterben steckt (nicht wirklich leben und nicht wirklich „verschwinden“ kann), sondern das Subjekt, das am Tode gespiegelt als etwas anderes weiterlebt. (Dafür gibt es eine lange Tradition der magischen Phantasien von jenen, die im Tod keinen Frieden fanden, die unvollständig starben und daher in der einen oder anderen Weise wiederkehren. Jede Religion ist eine Lehre vom richtigen sterben und vom richtigen Umgang mit dem Tod und mit den Gestorbenen. Sieht man von Erkrankungen der Seele, Massenhysterien oder politischem Gebrauch solcher Untoten ab, sind sie Elemente von Erzählungen, unscharf zwischen Sinnbild und Abbild und daher in aller Regel nicht wirklich auf dem Prüfstand der Vernunft und der Kritik. Aufklärung und Industrie verschoben das Problem: So brachte man den alten Untoten – mehr oder weniger – zum Verschwinden (man machte ihn, um genauer zu sein, zu einer fixen Größe in der populären Mythologie der Unterhaltung), zugleich aber rückte mit den Fortschritten der Technik und Wissenschaft der neue Untote in den grauen Bereich von „Machbarkeit“. Man könnte daher das neunzehnte und das zwanzigste Jahrhundert als Zeitalter des Übergangs ansehen. Der alte Untote – der unvollständig Gestorbene, der uns seit jeher begleitete, und der neue Untote – das unvollständig lebende Geschöpf des Menschen – vermischen sich zu immer neuen mythischen Gestalten in einer Innen- und Parallelwelt der Halbgötter und Dämonen, der Helden und Monster.

Leben heißt offensichtlich, anderes Leben zu verwenden, auseinanderzunehmen, einzuverleiben, während es sich erhält und fortpflanzt. Untotes Leben – glauben wir für den Augenblick unserer populären Mythologie – ist an einer Fortpflanzung in der Zeit nicht interessiert. Es vermehrt sich auf „unheimlichere“ Art: durch Ansteckungen, Verdoppelungen, Serialisierung etc. (Die Erzählung des Untodes beginnt mit dem Verlust der Familie.)

Das Subjekt des Untodes hat seine Macht über sich selbst verloren (wir sprechen nicht allein von „Bewusstsein“ und „Freiheit“ sondern auch vom Verlust ganzer Reaktionsfelder, zum Beispiel der Fähigkeit, zu fliehen, der Fähigkeit, sich zu verbergen, der Fähigkeit, Beuteschemen zu erkennen usw.), zugleich aber ist es auch „mächtig“ selbstbezogen. Offensichtlich sind im Zustand des Untodes Spiegelneuronen überflüssig.

Das untote Leben nimmt anderes Leben auseinander, während es selber ein auseinandergenommenes ist. Die Frage, welches Leben das auseinandergenommene untote Leben „ernährt“, beantwortet die populäre Mythologie mit der Kontamination: Auch wer den Angriff der Untoten überlebt, wird in gewisser Weise (moralisch und sozial ohnehin) „untot“ (und etwa bei Romero gibt es durchaus Menschen, die diesen Gedanken zu formulieren wagen). 

Der Untote hat nicht nur den Tod überlebt (den organischen, den sozialen oder den kulturellen Tod), sondern er ist, als mehr oder weniger lebendes Objekt der Biopolitik, eine Neukonstruktion von Macht und Freiheit. Er kann Dinge tun die das herkömmlich lebende (Menschen-) Subjekt nicht konnte, er ist damit mächtiger und „freier“, und er kann andrerseits Dinge nicht, die das herkömmliche lebende (Menschen-) Subjekt konnte, und er hat damit Freiheit und Macht verloren.

Ganz offensichtlich also entsteht dabei ein Transfer von Macht und Freiheit, der zunächst einem sehr simplen Prinzip zu folgen scheint, nämlich dem der Verbindung von Effizienz und Unterhaltung. Daher erscheint es uns zwar ein bisschen traurig, aber doch irgendwie als „gehöre es zu unserer Gesellschaft“, dass dem „hochgezüchteten“ Sportler ein Spezialschuh mit interaktiver Steuerung zur Erhöhung der Sprungkraft entwickelt wird und dabei ein enormes Potential gesellschaftlicher „Intelligenz“ eingesetzt wird, während Heerscharen von Bürokraten damit beschäftigt sind, bedürftigen Rentnern mit heftigen Schmerzen beim Gehen die Bezahlung der lindernden Einlagen verweigern und zwar mit guten Gründen (Ökonomie, Recht und Öffentlichkeit als Systeme dazu seien genannt). 

Hier liegt eine der historischen Ursachen für die zweifache Geschichte der Untoten: der verbesserte Leistungsmensch (der in seiner performativen Potenz zur Lust der anderen wird) und der verwaltete „unnütze“ Mensch, dem seine Gesellschaft würdiges Leben nicht gestattet, aber noch rigider das Sterben verbietet. 

Die Produktion des untoten Lebens in den mildesten und in den wildesten Formen scheint den moralischen Verfall der Gewinner-Regionen (der prosperierenden Nationen gegenüber den düsteren, der gewinnenden Klasse gegenüber der vergessenen) zu beschleunigen: Während in der „klassischen“ („gothischen“) Phantasie von Untoten vor allem das perverse Treiben von Aristokraten oder dekadenten Bürgern beschrieben wurde, denen sich das einfache Volk so weit zu entziehen vermochte, wie es ein „vernünftiger“ Blutzoll jedem Raubtier gegenüber ermöglicht, ist nun sowohl der Zombie (als Bild der „Verdammten dieser Erde“) als auch der Robocop (als Gegenbild weitgehend entzivilisierter, rebarbarisierter Lebenszustände) wesentlich Symptom des gesamten Elends (und in aller Regel „Produkt“ jener, die am Elend gewinnen: Militär, Politik, Ökonomie). 

Der Fluch des untoten Lebens in allen seinen Formen scheint es derzeit, dass es nicht Überwindung, sondern Ausdruck des obszönen Elends wird. Der Mensch, dessen Subjekt umgebaut wird, für nichts (als Unterhaltung, sinnlose Arbeit, die eigene Erscheinung als öffentliches Bild, die sexuelle Attraktion für die Entsexualisierung der Fortpflanzung etc.), der Mensch der als Untoter vor allem der Effizienz der Destruktion gehorcht (der Roboterpolizist – im Auftrag der Konzerne, die menschlich-maschinelle Kriegswaffe, der Untote als Seuchenverbreiter) und schließlich der untote Mensch, dem aller Reichtum und alle Fülle entzogen wurden (lebendig begraben vor dem Fernseher, in den Heimen und am Ende: in sich selbst).

Insofern er dazu noch in der Lage ist, leidet der Untote an einem Mangel an Sinn. Als Zeichen, als Instrument, als Rohstoff und als Abfall – ihm ist sowohl die Metaphysik genommen (es sei denn, er rückte seine Produzenten in den Rang der Schöpfergötter, aber schon in „Blade Runner“ zeigt sich, dass das ein Irrtum ist) als auch die Geschichte (als deren Subjekt er nicht gemacht wurde).

Für den Untoten gelten die Regeln des Sozialstaates nicht mehr. Zum einen, weil er sie nicht mehr braucht, zum anderen, weil ihm die Möglichkeiten fehlen, sie mit Macht einzufordern, zum dritten, weil er jenseits der Mikrostrukturen wie Familie, Nachbarschaft, Region etc. existiert, die auch dem Egoisten in der Gesellschaft Gemeinschaft aufzwingt.

Jenseits seiner „Machbarkeit“ ist der Posthuman-Untote also beides zugleich: Ein Versprechen (ein Gewinner darf sich verbessern und verlängern) und eine Drohung (ein Verlierer wird weiter herabgestuft, noch unterhalb des Menschlichen selber). Daraus entsteht freilich auch ein grässliches Missverständnis: Als könnte „untot-werden“ (in der Mucki-Bude, unter dem Chirurgen-Messer, mit der Enhancement-Droge etc.) selber zum Element des sozialen Gewinnens führen. (Wir verstehen: Unter den neuen Untoten wird es eine neuerliche Spaltung in die House-Nigger und die Field-Nigger geben, und den untoten House-Niggern werden die wahren untot Genießenden mit einer entsprechenden gezierten Sympathie gegenüber treten wie den Field-Niggern mit offener Gewalt und Verachtung.)

Die Geschichte des Untoten ist einerseits eine Geschichte der Menschen, andrerseits eine Geschichte der Maschinen und zum dritten eine Geschichte der Bilder. Warum bewegen diese drei sich so „unaufhaltsam“ aufeinander zu?

Da ist zum einen die Geschichte der Menschen, die immer mehr lebendige Arbeit in die Entwicklung der Maschinen setzen, die (auf besondere, nämlich kapitalistische) Weise diese lebendige Arbeit vernichten. Es gibt einen Punkt (und allein Science Fiction ist das nicht), da dieser Prozess abgeschlossen wäre. Alle lebendige Arbeit wäre maschinell ersetzt (und möglicherweise wären auch alle Krieg geführt). Was dann?

Die Maschine „ersetzte“ zuerst jene körperliche Arbeit, die eher Teil des Elends als Teil des Genusses war (jedenfalls unter den Bedingungen, die wir dafür schufen); die lebendige Arbeit, das war das Versprechen, konzentrierte sich auf andere Dinge, auf Kommunikation, auf Innovation, auf Ästhetik, auf Fürsorge etc., aber der Prozess der Maschinisierung der Arbeit machte auch vor diesem Sektor nicht halt, und nach Produktionsmaschinen bekamen wir Verkaufsmaschinen, Medizinmaschinen, Unterhaltungsmaschinen (und natürlich: Blödmaschinen, um die Prozesse zu begleiten). Die Beziehung zwischen lebendiger und maschineller Arbeit beschränkte das erste immer mehr auf den performativen Charakter. Was an Arbeit bleibt (weil die Maschinen teurer wären als die immer billiger werdenden Menschen), wird von einer neuen Klasse der Elenden erledigt, die gerade noch „glücklichen“ der Heerscharen von „unnützen Menschen“; privilegierte Arbeit dagegen ist vor allem: Schauspiel.

Das soziale Schauspiel wird seinerseits mehr und mehr durch die medialen Rituale ersetzt (durch Simulationsmaschinen); hier werden „echte Menschen“ vor allem als Opfer vorgeführt und – untot gemacht. (Wir können eine Dirty Talk Show oder andere Formen des Reality TV nicht nur als öffentliche Veranstaltungen der Bestrafung ansehen, sondern auch als soziale Erledigung. Der vom Fernsehen oder von der BILD-Zeitung – und ähnlichen Instanzen – „behandelte“ Mensch kehrt in seine soziale Umwelt ganz ähnlich demjenigen zurück, von dem wir am Anfang sprachen, als einer, der nur als ein anderer, ein umgebauter, ein entwerteter überleben darf, während er einen Teil seiner Freiheit und seiner Macht – seines Subjekts – öffentlich und sichtbar abgetreten hat: das Medium wird mächtig, indem es seine Opfer in Untote verwandelt.)

Wie kann der Mensch bestehen, der von der einen Seite (der der Effizienz) von der Maschine (und vom Maschinellen) bedroht ist und von der anderen Seite (der der Kommunikation, vulgo „Unterhaltung“) von der Bilderproduktion, die zunehmend das „Schöne“ synthetisch herstellt, als digitale Verbesserung und Ersetzung des alten analogen Bildes, und das „Grässliche“ in Gestalt von Restmenschen zunehmend mit kannibalistischer Gier vernichtet)?  Am einfachsten, indem, so weit er es sich leisten kann, mit beidem zu konkurrieren versucht: immer mehr und besser Maschine werden (positiv denken, funktionieren) und immer mehr und besser Bild werden (Ken und Barbie, Panzerkörper, wegoperierte Zeichen der Minder-Privilegierung).

Da ich nicht Maschine werden kann ohne die Hilfe der Maschinen und nicht Bild werden kann ohne die Hilfe der Bilder, drehen sich schließlich (immerhin: in der prekären Mitte) die Verhältnisse um: Der Untod beginnt (unter vielem anderen) damit, dass ich Bild des Bildes, Maschine der Maschine werde.

Daher haben wir die dritte Form des Untodes, jene, die zwischen der Phantasie des unsterblichen und auf ewig verbesserten genießenden Körper der Gewinner und der vom perfekt-unwertigen Arbeits-Instrumen-Sklaven steht: Untod im Überlebenskampf der Mittelschicht (der wie wir wissen, zwischen „verantwortungslosem“ genießend-elenden Oben und „verantwortungslosem“ elend-genießenden Unten, die Arbeit an sozialer Realität aufgebürdet wird: Steuern zahlen, Demokratie-Spielen, „Fortschritt“).

Nur Untote, so scheint es, überleben die Implosion von Mensch, Maschine und Bild. Möglicherweise indem sie diese Implosion biopolitisch am eigenen Körper vollziehen (und, das ist das Wesen eines Macht/Freiheits-Transfers, stets zur gleichen Zeit mit umgekehrten Vorzeichen, am Körper der anderen). Möglicherweise aber auch, indem sie eine utopische Projektion ermöglichen.

Eine erste Hoffnung in der Krise: Die Krise überleben. Der, natürlich, hat die größten Chance, der die Krise (und die Krise, die nach der Krise kommt, und dann die nächste, eine furchtbarer als die andere, ganz gewiss) am längsten (und am „stärksten“) überlebt. Überleben braucht daher zunächst einmal weder Begründung noch Ziel, sondern hat, ganz im Sinne des Systems, seinen Grund in sich selber, denn überleben heißt nicht so sehr dieses oder jenes überleben, überleben heißt vor allem: die anderen überleben.  (Und da trifft es sich natürlich gut, dass ich diese anderen aus den Systemen von Empathie, Verständnis, Solidarität etc. weitgehend ausgeschlossen und auf das fragmentierte Wahrnehmen nach Angst und Begehren reduziert habe.)

Wer eine Krise überlebt hat, ist stärker geworden, er wird, nachträglich, die Krise zu seinem Vorteil nutzen können, oder? Untot werden ist die letzte und radikalste Form der „Spekulation“, das Setzen auf eine Zukunft (nicht eine, die besser wäre, sondern eine, in der man selber „bessere Chancen“ hätte).

Alle Untoten haben ein kleines Demokratie-Problem. Der Verheißung der „bürgerlichen Gesellschaft“, nämlich ein System freier und gleicher Subjekte zu sein, können sie ja schon aus rein leiblichen Gründen nicht mehr anhängen; sie sind ja Einheiten (oder nicht einmal mehr ganz dieses), denen etwas fehlt und die von anderem zu viel haben (untote Helden sind einsame Außenseiter, sie drohen nicht nur an den Gesetzen zu zerbrechen, die für solche wie sie nicht gemacht sind, sondern auch an den informellen Regeln).

Untot ist das zerlegte und neu zusammengesetzte Subjekt, dem eigenes entnommen und fremdes beigefügt wurde. Auch dies hat einen archaischen, magischen Urgrund: Tanz, Trance und Re- Enactement haben einen solchen Umbau der Subjekte wenigstens temporär vorgenommen, Hypnose und Propganda, Behandlung und Folter folgten, Gefängnisse und Kriege, und schließlich sind die Erzähl- und Bildermaschinen nichts anderes: Das begehrende Subjekt wird durch Angst aufgespalten, um neu zu erstehen, immer aus dem selben Paradox, das heute noch den Autobomber mit bizarrer Todesgeilheit erfüllt: Vernichte andere, vernichte dich selbst, um unsterblich zu werden.

Wie also werde ich untot? Indem ich dem Begehren der anderen mit meinem Angst-Potential begegne (Scarification): Mein Körper überlebt, indem er den anderen Angst macht. Seine Bezeichnung, Durchlöcherung, Vernarbung, Ausweitung, Dynamik macht euch Angst, nicht wahr (unglücklicherweise ein Effekt, der sich verbraucht: Was nutzt mein Knopf in der Zunge, wenn alle gepiercet sind?). Ich begegne meiner Angst, indem ich den anderen mit meinem Potential des Begehrens begegne („Schönheitschirurgie“). Ich begegne der Missgunst der anderen, indem ich nützlich und gesund werde („Seht, ich falle euch nicht zur Last! Seht, ich bin noch nützlich, ihr braucht mich nicht zu verstoßen!“) Ich begegne dem Zorn der Herrschaft, indem ich „normal“ werde, sehr normal. Untot muss ich werden, um eben diesen radikalen Bruch zwischen mir, den anderen und „dem großen anderen“ der Herrschaft (das sich als Bild und als Maschine meinem Zugriff entzogen hat) zu überleben.

Das Subjekt, das ich bei allen, den kleinen wie den nicht mehr so kleinen Etappen des Untot-Werdens aufs Spiel setze, muss mir zuvor lästig geworden sein. Untot will ich nicht nur werden, um nicht Tot zu werden (zu „verschwinden“), sondern auch, weil ich am Leben gescheitert bin. Es beenden ist eine radikale Subjekt-Praxis, die in der bürgerlichen Gesellschaft informell als Option vorhanden sein müsste: das Recht auf den Selbstmord hat als (ungelöstes) Schlüsselproblem die bürgerliche Gesellschaft so sehr durchzogen, wie sich nun das (unlösbare) Problem der Untoten durch die postbürgerliche Gesellschaft zu ziehen anschickt: In beiden Fällen scheint es um eine „Erfüllung“ zu gehen, die zugleich Beendigung ist. Ein Projekt der Selbstaufhebung (des Subjekts und der Effizienz/Unterhaltungs-Einheit).

Untot werden, könnte man auf den ersten Blick argwöhnen, ist zunächst einmal eine Alternative zum Selbstmord. (Vor der Prothese, so erzählen die Nachkriegsgeschichten, steht der Selbstmord-Impuls, und erst dann kann man „durch die Liebe gerettet“ werden.)

Die „unscharfe Erzählung“ vom Beginn und vom Ende des (menschlichen) Lebens begleitet uns als Widerspruch zwischen Ethik und Wissenschaft, die sich gleichwohl gegenseitig perfekt zu benutzen wissen (die Ethik argumentiert „biologistisch“ und umgekehrt). So gilt auch für Anfang und Ende das (im wesentlichen idiotische) Prinzip der „Ganzheitlichkeit“: Ein menschliches Leben sei, so wird argumentiert, von der Befruchtung der Eizelle an ein „kontinuierlicher Prozess“, eine syntagmatische Einheit, der nur „Applikationen“ hinzugefügt würden, nichts aber wesentlich neues oder gar widerläufiges. Das Phantasma der zentralen Instanz, des „vollkommenen“ Programms des Lebens zieht sich durch Diskussionen, die „das Leben“ dort zum Fetisch erheben und gleich an anderer Stelle bedenkenlos zu opfern bereit sind. (Wie geht das zustande, können wir uns fragen, dass ein Abtreibungsgegner zugleich ein Kriegsbefürworter ist? Die Antwort ist klar: Man spricht im Namen einer Bestimmung, eines großen anderen, eines „Schicksals“, eines Trans-Subjektes.)

So durchkreuzen sich (schon wieder!) das neue „kapitalistische“ Begehren und die alte „christliche“ Angst. Noch weit jenseits der kindlichen Vorstellung vom „dem Schöpfer ins Handwerk pfuschen“ (wenn wir das Ergebnis von Handwerk sind, wie sieht dann das Ergebnis von Pfusch aus?) scheint die Angst vor dem Untoten als Experiment mit unsicherem Ausgang (unnütz zu sagen, dass ein Gegner von „Menschenversuchen“ ohne weiteres Befürworter von Atomenergie sein kann) und Ordnungsverstoß auf. Wieder einmal erkennen wir den Widerspruch zwischen den Phantasmen ORDNUNG und HERRSCHAFT, den nur der Volksheld (oder der Künstler) zu lösen imstande wäre.

Weil die Argumente gegen den Untod, die im Zeichen der Ordnung und die im Zeichen der Herrschaft geführt werden, sich so ähneln, verbergen sie ihre Dialektik: In seinem Pre-Enacting in der populären Mythologie ist der Untote (Symptom und Ursache der Störung, je nachdem) Held wie Monster, der „geborene“ Rebell. Denn da er sich auf Ordnung (Schicksal, Natur, die Götter, die Gerechtigkeit, wasauchimmer) nicht berufen kann, steht er in direkter Konfrontation mit der Herrschaft. Mit der Herrschaft, die ihn erzeugt hat, ist der Untote von der ersten Sekunde an entzwei. (Sogar eine „Schönheitsoperation“ entzweit den Menschen von der Schönheit; 

Der untote Mensch, dem Elemente seiner „ganzen“ Menschlichkeit entzogen und „industrielle“ Elemente implantiert wurden, kann sich selber nicht mehr vollständig gehören. (Schon der Kranke gehört einem System der Pharmaindustrie, der Kassen und der Politik; das Selbstbestimmungsrecht ist in aller Regel – und allen fetischistischen Erklärungen und Fragebögen zum Trotz – das erste, was der Kranke verliert.) Die Eigentumsrechte am untoten Menschen indes sind verschärft, dafür sorgt die Veränderung der Verfügungsrechte in den copyright wars und im späten „Infofeudalismus“. (Der Film „Repo Men“ erahnt im übrigen kommendes Grauen: wer nicht mehr bezahlen kann, was ihm implantiert wurde, der wird gejagt und zerlegt. Die nächste Spirale der Angst beginnt und erneut in groteskem Selbstwiderspruch: Wer untot gemacht wurde und es bleiben will, ist „tributpflichtig“, sein Leben ist ganz buchstäblich in feudaler Hand und kann jederzeit beendet werden.)

Der untote Mensch weiß nicht, ob er Teil der Natur oder Teil ihrer Ausbeutung ist, so wenig er weiß, was in ihm „eigenes“ und was in ihm „fremdes“ ist (das hat, gewiss, auch seine bemerkenswert schönen Seiten, ganz abgesehen davon, dass das Wissen darum den „traditionell lebenden“ Menschen nicht viel genutzt hat). 

Und ist der untote Mensch (wenn er denn aus dem Status einer Sensation, eines Symptoms heraus tritt) der Vollstrecker der nächsten Wandlung zum „unnatürlichen Staat“ (eines Staates oder auch Post-Staates, der keine Begründung ausser sich selbst benötigt? Wenn die Gesellschaft der gerade beginnenden Zukunft statt auf einem Gesellschaftsvertrag und auf einer Produktionsweise tatsächlich auf Effizienz und Unterhaltung basiert, muss sich auch der doppelgesichtige Untote zwischen Staat und Gesellschaft entscheiden (der Robocop kannte dieses Dilemma bereits).

Der untote Mensch (der aus einem Teil „fremder“ Materialien/Programm besteht, die einen industriellen bzw. feudalen „Eigner“ haben) verschärft durch den oben beschriebenen Transfer von Macht und Freiheit zunächst einmal einen Zuwachs der kapitalistischen Kräfte. Die Regierung eines Staates, der nicht absterben will, muss am Leib und in der Rolle des untoten Menschen verlorenes Terrain zurück gewinnen. Auch so versteht man das Interesse des Staates an einer Kontrolle der Untoten-Produktion und zugleich das Interesse an der Militarisierung und der Gouvernalität des Untoten.

Es muss darum um mehr als um das bloße Überleben (das Überleben der anderen) gehen; der untote Mensch muss nach seinen Bedürfnissen und nach seiner Würde befragt werden. Und wie es so geht: der Kapitalismus wird ihnen die Befriedigung der Bedürfnisse versprechen, der postdemokratische Staat dagegen den Schutz seiner  Würde. (Beide werden ihr Versprechen wieder einmal nicht einhalten, so viel ist klar, sie werden vielmehr dem Untoten vorhalten, es sei nur ihrer Gnade zu verdanken, dass aus dem Untod nicht „echtes“ Sterben wird.)

Warum aber sollten re-feudalisierter Kapitalismus und postdemokratischer Staat „Armeen“ von unnützen Untoten (Pflegefälle, Alte, Kranke, etc.) am Leben erhalten, oder anders gefragt (und schwant da nicht den Kritikern etwas, was sie auszusprechen noch nicht wagen, weil das reaktionärer Kulturpessimismus wäre?): Wäre nicht ein allgemeines Euthanasie-Programm das einzig „vernünftige“ Seitenprojekt zum instrumental, ästhetisch und kognitiv verbesserten Menschen.? Und sehen wir dabei von einigen heuristischen Argumenten des Übergangs ab: Der Wohlfahrststaat lässt sich am besten über den „demografischen Faktor“ abwickeln; selbst unvollkommene Wesen geben eine „Reservearmee“ ab, um Forderungen der nützlichen Menschen und Post-Menschen in Schach zu halten; man muss mit den Kräften der alten Welt (den Kirchen, den Ethik-Räten, den kleinen Öffentlichkeiten) eine Zeit paktieren.

Der Untote ist zu nicht stets gleichen Teilen Mensch, Maschine und Bild; das hatte auch schon sein Vorläufer, der gesellschaftliche Mensch in sich, aber er konnte es nur in einer Einheit realisieren (als Mythos, um genau zu sein). In unserem Lieblingsuntoten derzeit, dem Zombie, freilich ist beinahe nichts von alledem übriggeblieben: Er empfindet sich nicht als Mensch, wird nicht als Mensch empfunden; er funktioniert nicht als Maschine und keine Maschine funktioniert durch ihn und mit ihm, und schließlich ist er nicht nur Bild des Zerfalls, sondern auch zerfallendes Bild.  (Wir könnten vermutlich damit durchkommen, den Zombie, im Sinne der kapitalistisch-postdemokratischen Entwicklung als Anti-Untoten bezeichnen; jedenfalls überwiegen in ihm die Elemente der Negation gegenüber den Elementen der „Fortsetzung“.)

Da ist es nur konsequent, dass die Entwicklung, die das Bild in der populären Kultur genommen hat, die auf die „Zombie-Apokalypse“ ist. Zombies beenden das Projekt (die Versuche, die lebenden Toten doch noch irgendwie „nützlich“ zu machen oder wenigstens mit ihnen zu kommunizieren oder wenigstens sie als Metaphern zu verstehen – und nicht einfach als Menschen fressende herumtorkelnde Leichname, sind rührend zum Scheitern verurteilt).

Georg Seeßlen und Markus Metz gehören dem wissenschaftlichen Leitungsteam des Projekts Die Untoten an. Sie haben die Scripts für die Gerichtsshow Undead Justice geschrieben, die während des Kongresses aufgezeichnet wird. Außerdem haben sie das Zombie-Filmprogramm Loving the Undead kuratiert und werden zu den dort gezeigten Filmen jeweils eine Einführung geben.