Wachkoma [Andreas Zieger, Xperiment!, Aya Ben Ron]

Wachkoma-Patienten fordern die Verhältnisse zwischen menschlichem 'Leben', 'Person' und 'Bewusstsein', zwischen Anteilnahme und Teilhabe heraus.

Aya Ben Ron: Sisters, 4, verschiedene Materialien auf Holz, 2010, Teil der Arbeit Shift (Quelle: [link])

PATIENTEN ALS MITBÜRGER
Wachkoma ist in verschiedener Hinsicht eine fundamental unentschiedene Situation. Betroffene scheinen oft tagsüber wach zu sein, mit geöffneten Augen, aber sie reagieren nicht willkürlich oder sinnvoll, möglicherweise nur reflexhaft, auf äussere Einflüsse. Die extrem begrenzte Kommunikation lässt aller Wahrscheinlichkeit nach darauf schließen, dass Menschen im Wachkoma kein Bewusstsein von sich selbst oder ihrer Umwelt haben. Die Unentschiedenheiten in Bezug auf diesen Zustand kann schon an den verschiedenen zirkulierenden Bezeichnungen dafür festgemacht werden. 1940 beschrieb der Psychiater Ernst Kretschmer entsprechende Symptome als 'apallisches Syndrom' (nach griechisch 'pallium' – Cortex), das einen vollständigen Ausfall der Funktionen der Großhirnrinde (Cortex Cerebri) nahelegt. In den 1970er Jahren wurde Zweifel gegen diese Annahme laut und der Begriff 'persistent vegetative state' vorgeschlagen. Das 'vegetativ' in diesem Begriff transportiert wiederum andere Implikationen: Basale Lebensfunktionen seien zwar vorhanden, aber in der Abwesenheit mentaler Erfahrungen ähnele dieses Leben eher dem einer Pflanze. Der Biologe und Philosoph Hans Werner Ingensiep hat auf die lange abendländische Geschichte einer Hierarchie der Lebensformen und die sich daraus ergebenden Probleme einer solchen Begrifflichkeit für eine zeitgenössische Bioethik hingewiesen. (Hans Werner Ingensiep: 'Leben zwischen 'Vegetativ' und 'Vegetieren'', in: N.T.M, 14 (2006), S. 65–76. Siehe auch den Eintrag: Hans Werner Ingensiep: Was ist Leben? [Vegetative State])

Wie gehen wir also mit Menschen um, die unter uns leben, die sich aber nicht, zumindest nicht, wie normalerweise für eine Person vorausgesetzt wird, durch Sprache oder durch eindeutige Willensäusserungen an der Kommunikation darüber teilnehmen können, wie mit ihnen selbst umgegangen werden soll? Dies betrifft alle möglichen Aspekte des Zusammenlebens, von öffentlicher Entscheidungsfindung bis hin zur unmittelbaren zwischenmenschlichen Kommunikation mit Angehörigen und Pflegenden.
Der Neurochirurg und Wachkoma-Experte Andreas Zieger hat in einem Memorandum Forderungen beschrieben, die sich aus der Anerkennung von 'Wachkoma-Patienten als Mitbürger' ergeben:

Unsere Erfahrung in der Begegnung und dem Zusammenleben mit Menschen im Wachkoma hat uns zu dieser Form der Ethik und Haltung zum Leben gebracht, die Menschsein 'vom Anderen her' denkt (Lévinas). … Solange ein Mensch lebt, selbst im Sterben, ist er mit Wahrnehmungen, Empfindungen und Bewegungen mit der Umwelt verbunden. … Wir wenden uns gegen Auffassungen der Bioethik, wonach “Bewusstlose” und andere sogenannte Nichteinwilligungsfähige Lebensschutz und Menschenwürde nicht oder nicht im vollen Umfange beanspruchen dürfen sollen (Singer).
(Andreas Zieger: Der Wachkoma-Patient als Mitbürger, Memorandum 2001.)

FORSCHUNGSZENTRUM FÜR GETEILTE INKOMPETENZ
Mit dem Projekt Was ist ein Körper / eine Person? – Forschungszentrum für geteilte Inkompetenz hat die Gruppe Xperiment! (Bernd Kräftner, Judith Kröll und Isabel Warner) den Versuch unternommen, in einer Herangehensweise, die sich zwischen Wissenschaft und Kunst bewegt, mögliche Perspektiven auf die damit verbunden Problematiken zu erkunden. Das kann problematisch sein, wenn sich die Drastik der beobachteten Situationen mit einer voyeuristischen und sensationalistischen Schaulust verbindet. Andererseits können aber dabei Gelegenheiten der öffentlichen Auseinandersetzung mit einem Thema entstehen, bei dem alle Beteiligten zumindest teilweise, in einer jeweiligen bestimmten Hinsicht, 'inkompetent' sind. Darauf eben hebt der Titel 'shared incompetence' in der Formulierung von Xperiment! ab:

Bei den Betroffenen handelt es sich um Leute, die 'legally incompetent' sind, das heißt sie sind unmündig und von Entscheidungen anderer abhängig. Diese 'anderen' sind in einem permanenten Abwägungsprozess, welche Entscheidungen richtig oder falsch sind: Diagnose, Prognose und Therapie sind hochgradig unsicher. Auch diese Leute sind nicht selten 'inkompetent'.
('Was ist ein Körper / eine Person? – Forschungszentrum für geteilte Inkompetenz', in: Michael Guggenheim u.a. (Hg.): Die Wahr/Falsch Inc., Wien 2006, S. 57. Siehe auch die Webseite der Ausstellung hier: [link])

Der Wissenschaftsforscher Bruno Latour, der Was ist ein Körper / eine Person? bei der von ihm und Peter Weibel kuratierten Ausstellung Making Things Public 2005 am ZKM Karlsruhe präsentierte, hat in einem Katalogtext zu diesem Projekt die Unsicherheiten der 'verteilten Inkompetenz' bei der Erforschung dieses Feldes nocheinmal genauer aufgefächert und damit hervorgehoben, wie hier auf verschiedenen Eben der Entscheidungen, Handlungen und Begegnungen verschiedene Weisen der Teilhabe wirksam werden: Die wissenschaftlichen Beobachter, die nicht wüssten, was dabei auf dem Spiel steht, die Beobachteten, die es nicht gewohnt wären, analysiert zu werden, womöglich die Gefahren nicht abschätzen könnten und die Auftraggeber, die nicht wüssten, ob die jeweilige Forschung tatsächlich nützlich ist und wie die Betroffenen darauf reagieren werden: 'Wie lässt sich diese Inkompetenz erforschen, und besonders: Wie lässt sie sich mitteilen, sodass alle Beteiligten an ihr teilhaben? Dazu bedarf es einer vierten Quelle von Inkompetenz – jene des Künstlers'. (Bruno Latour: 'Was bedeutet es, Anteil zu nehmen?', in: Michael Guggenheim u.a. (Hg.): Die Wahr/Falsch Inc., Wien 2006, S. 64.)

Xperiment!: Was ist ein Körper / eine Person?, 2006 (Ausschnitt aus einer Katalogseite in: Michael Guggenheim u.a. (Hg.): Die Wahr/Falsch Inc., Wien 2006, S. 69.).

Im Rahmen des Projekts Forschungszentrum für geteilte Inkompetenz haben Xperiment! ihre Beobachtungen und Erfahrungen in einem Pflegeheim für die Langzeitrehabilitation von Schwerstbehinderten und Wachkomapatienten protokolliert. Zur Anwendung kamen dabei in einer ethnografischen Methodik der genauen Aufzeichnung Fotografien, Malerei, Skizzen und schriftliche Protokolle. Eine solche Szenenbeschreibung zeigt beispielsweise, wie sich im Umgang mit den Patienten die Verhältnisse zwischen Leben und juridischer Person in einer spezifischen Ordnung von Handlungen, Verfahrens- und Aufzeichnungsweisen aufspalten:

Scene: A bed in a hospital environment. A male nurse is about to position an akinetic, female human body by turning it into a lateral position. He uses several support cushions and informs the patient about each step of the procedure. Before leaving the scene, the nurse puts his signature on a sheet of paper attached to the bed. On the sheet we can recognize many different signatures. The body in the bed lives in a vegetative state or, maybe, in a minimally responsive state. To keep her alive an intricate network of humans and artifacts has to provide basic needs: moving the body every one or two hours to prevent bedsores, to take just one example. The woman is legally incompetent; therefore, in place of her, many persons have to give their signatures: nurses, solicitors, doctors, family members, physiotherapists and the rest. One signature dissolves into many.
(Xperiment!: 'What is a Body / a Person? Topography of the Possible' In: Bruno Latour und Peter Weibel (Hg.): Making Things Public. Atmospheres of Democracy, Karlsruhe und Cambridge, MA 2005, S. 906.)

SHIFT
Auch die Israelische Künstlerin Aya Ben Ron hat sich 2009 im Rahmen ihrer Arbeit Shift mit dem Thema Wachkoma befasst. Bei ihrer Videodokumentation des Tagesablaufs von zwei Wachkoma-Patienten im Reut Medical Center, Tel Aviv ist sie auf ähnliche Probleme der Position des Beobachters gestoßen. Wie der Titel Shift schon andeutet, wird hier das 'Dazwischen' zur zentralen Figur, die verschiedene Aspekte des 'persistent vegetative state' auszeichnet. 'Shift' bezeichnet einerseits den Übergang zwischen zwei Zuständen, Leben und Tod, aber auch das Wachen und Schlafen der Patienten. Andererseits bedeutet das englische Wort 'Shift' auch 'Schicht' und bezieht sich auf die Tag- und Nachtschichten der Ärzte und Pfleger in der Klinik. Und entsprechend des Unverhältnisses zwischen dem existentiellen Zustand der Patienten mit ihren sehr grundsätzlichen Bedürfnissen nach dem  Überlebensnotwendigten und der Unsicherheiten für die Pflegenden angesichts der Unmöglichkeit üblicher Kommunikation, ergibt sich in dieser Arbeit eine Kluft zwischen der Unmittelbarkeit der Videoaufzeichung und den vielfältigen und komplexen Fragen, die das Wachkoma für unser Verständnis des menschlichen Lebens aufwirft.

Andreas Zieger wird am Donnerstag, 12.05. als Referent am Kongress Die Untoten teilnehmen.
Der gesamte Text von Andreas Zieger: Der Wachkoma-Patient als Mitbürger. Lebensrecht und Lebensschutz von Menschen im Wachkoma und ihren Angehörigen in der Solidargemeinschaft, 2001, kann hier heruntergeladen werden.

Zu Forschungszentrum für geteilte Inkompetenz der Gruppe Xperiment! finden sich weitere Informationen hier und hier.

Aya Ben Ron wird am Freitag, 13.05. und Samstag, 14.05. als Referentin am Kongress Die Untoten teilnehmen und ihren Film Shift präsentieren.
Auf ihrer Webseite finden sich weitere Informationen: [link].