Katrin Solhdju: Interessierte Milieus. Oder: die experimentelle Konstruktion 'überlebender' Organe

Mit der Herstellung so genannter isolierter oder überlebender Organe im Rahmen der experimentellen Physiologie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts musste man sich darauf einlassen, dass 'das Lebendige in den Zwischenräumen lauert':

Apparat zur künstlichen Durchblutung durch Neubauer und Gross, 1910 (Ausschnitt).


Interesse in seiner geläufigen Bedeutung als Funktion eines Subjekts, das intentional oder bewusst seine Aufmerksamkeit auf etwas lenkt, schreiben wir gewohntermaßen ausschließlich Menschen und allenfalls noch höheren Tieren zu. Besinnt man sich der Etymologie von Interesse, das zunächst nichts anderen bedeutet als »Dazwischen-Sein«, dann bietet sich dieses Konzept hingegen als eines an, das auch zur Beschreibung anderer als menschlicher Realitäten und ihrer Aktivitäten herangezogen werden kann.
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Die Idee, Interesse so generell zu fassen, dass es als Eigenschaft aller möglichen Realitäten, besonders aber des Lebendigen gelten kann, ist in der Beschäftigung mit einer der möglichen 'Vorgeschichten' der heutigen Transplantationsmedizin entstanden; und zwar konkreter in Auseinandersetzung mit der Herstellung so genannter isolierter oder überlebender Organe im Rahmen der experimentellen Physiologie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Organe, die vom Gesamtorganismus isoliert werden, um etwas über ihre Funktionsmechanismen lernen zu können, erwiesen sich im experimentellen Umgang als Knotenpunkte vielteiliger und prozesshafter Versammlungen oder Gesellschaften (Assoziationen); und ihre Lebendigkeit tritt als eine hervor, die sich zwischen ihnen und ihrem Milieu ereignet, in ihren Wechsel-, Austausch- und Abhängigkeitsverhältnissen. Wenn man demnach überlebende Organe experimentell herstellen wollte, so musste man sich eben darauf einlassen, dass – wie Alfred North Whitehead es in einem ganz anderen Zusammenhang formuliert hat – 'das Lebendige in den Zwischenräumen lauert'...

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Was bei der Betrachtung des technischen oder technologischen Aufwands, wie ihn Jacobj für das Überleben eines Organs außerhalb seines Organismus betreibt, augenfällig wird, ist, dass sich im Rahmen solcher  Experimente das Leben als komplexer Prozess präsentierte, der sich im ganz buchstäblichen Sinne zwischen einem Organ und seinem Milieu abspielte. Man könnte auch sagen, dass sich die Überlebensaktivität im Rahmen der experimentellen Herstellung überlebender Organe auf alle beteiligten Akteure, sowohl technische wie Pumpen, Zylinder, Wärmequellen, Thermostate und Röhrensysteme, als auch auf organische wie das Organ selbst, Sauerstoff und Blut und nicht zuletzt auf die in ihnen hergestellten Druckverhältnisse, Rhythmen und Intervalle verteilte. Das Lebendige erwies sich hier also keinesfalls als einsame Aktivität eines sich gleich bleibenden, selbstgenügsamen Individuums, sondern vielmehr als permanenter Prozess, als eine gemeinschaftliche Praxis sich wandelnder und beeinflussender Interessen.

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(D)ie Praktiken, die es auf eine solche Isolation abgesehen hatten, machten die Lebendigkeit der Organe als eine sichtbar, die sich an keiner klar abgrenzbaren Materialität festmachen ließ, sondern die sich vielmehr, um mit Schelling zu sprechen, immer als 'geborgt' und damit als eine herausstellte, deren Qualitäten in den Zwischenräumen (interstices) lauerten. Was aber liegt in den Zwischenräumen, wenn nicht das Inter-esse? Oder anders ausgedrückt, die überlebenden Organe machten deutlich, dass Lebendiges in der Praxis niemals als einer, sondern immer schon als hybride Versammlung oder Gesellschaft zu behandeln war, deren Inter-essen es mit ihren Existenzmodi adäquaten und das heißt eben inter-essierten Strategien nachzuvollziehen galt. Denn nur auf diesem Umweg ließen sich die Organe in der Praxis lebendig erhalten und gaben etwas über ihre konkreten Funktionsmechanismen preis.

Organe waren also schon weniger als hundert Jahre nach ihrer genauen medizinischen Abgrenzung von Fasern und Geweben einerseits und vom Gesamtorganismus andererseits auf eine ganz neue Weise flüchtig und unabgrenzbar geworden, nämlich insofern sich im experimentalphysiologischen Umgang mit ihnen ihre relationale, inter-essierte Lebendigkeit erwiesen hatte. Ein Wissen von ebendieser Interessiertheit der Organe aber, wie sie im Zusammenhang ihres experimentell hergestellten Überlebens sichtbar wurde, muss als eine notwendige Bedingung unter anderen für das Gelingen von Organtransplantationen angesehen werden. Dem Überleben eines durch die Transplantation eines Organs therapierten Organismus geht also – wissens- wie praxisgeschichtlich – ein anderes Überleben voraus, nämlich dasjenige der Organe.

Zugleich zeichnete sich in der zunächst rein physiologisch ambitionierten Praxis auch schon eine fundamentale Problematik der Transplantationsmedizin ab. Bezog sich doch die Arbeit am Überleben der Organe von Anfang an keineswegs auf klar umgrenzte Gegenstände, sondern erwies sich vielmehr als ein prekäres Hantieren mit interessierten Milieus.

Wenn aber ein interessiertes Milieu in einen neuen Organismus verpflanzt werden soll, so muss nicht nur das Milieu eines Organs simuliert werden, vielmehr muss das Zusammenleben verschiedener interessierter Milieus gelingen. Von dieser durch die Betrachtung eines Ausschnitts der Physiologiegeschichte gewonnenen Perspektive aus stellt sich auch das Problem der viel thematisierten Abstoßungen, zu denen es in der Folge von Organtransplantationen kommt, auf eine andere Weise. Wird üblicherweise der therapierte Organismus und damit ein vollständig ausgebildetes Individuum als einziger Handlungsträger apostrophiert, so kann auch dieser Prozess jetzt als einer diskutiert werden, der sich vielmehr zwischen den Dingen, in ihren Verhältnissen zueinander oder ihren Interessen füreinander vollzieht. Denn insofern sich transplantierte Organe nun als solche darstellen lassen, die ein interessiertes Milieu mit sich führen, können Abstoßungen als Interessenkonflikte adressiert werden, bei denen alle beteiligten Akteure eine aktive Rolle spielen, deren Regulation sich schlicht aufgrund der hinzugekommenen Quantität als weitaus komplexer erweist als die Herstellung überlebender Organe.


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Erschienen in: Thomas Brandstetter, Karin Harrasser, Günther Friesinger (Hg.): Ambiente. Das Leben und seine Räume, Wien 2010.

Katrin Solhdju wird als Referentin am Donnerstag, 12.05 und Samstag, 14.5. am Kongress Die Untoten teilnehmen.