Schöne neue Welt der kontrollierten Fortpflanzung [Huxley-Orwell, Fukuyama-Houellebecq]

In den Leitdystopien des 20. Jahrhunderts – George Orwells 1984 und Aldous Huxleys Brave New World – übernimmt das Herrschaftssystem der Zukunft radikal die Kontrolle über die menschliche Fortpflanzung. Doch in ihrem Umgang mit der geschlechtlichen Liebe stehen sie sich diametral gegenüber: In Orwells Vision wird Sex generell verboten, Fortpflanzung soll ausschließlich mittels künstlicher Befruchtung stattfinden. Bei Huxley dagegen haben die Mitglieder der zukünftigen Gesellschaft Sex soviel sie wollen.

Das Regime fördert sogar alle Formen sinnlicher Befriedigungen, da es seine Macht darauf errichtet, die hedonistischen Bedürfnisse der Menschen anzustacheln, zu befriedigen und zu kontrollieren und damit jegliche andere Begehren zu unterbinden.

Die Entwicklungen der letzten beiden Jahrzehnte scheinen ganz klar diese letztere Vorhersage, die Vision eines 'freundlichen', technologiegesteuerten Totalitarismus, zu bestätigen. Darauf weisen, jeweils an zentraler Stelle, aber mit unterschiedlichen Zielrichtungen, der amerikanische Gesellschaftstheoretiker Francis Fukuyama und der französische Romancier Michel Houellebecq in Büchern hin, die sich mit der Zukunft der Gattung Mensch befassen. Für Fukuyama liefert Huxleys Buch die Stichworte, um mit seiner Sammlung von Argumenten gegen ein 'Ende des Menschen' zu beginnen, das, so Fukuyama, in der Gesellschaft der 'schönen neuen Welt' besiegelt worden sei.
Laut Fukuyama schildert Huxleys Buch:

… eine Welt, in der alle das bekommen, was sie haben wollen. Wie eine der Figuren des Romans bemerkt: »Endlich kamen die Aufsichtsräte zur Einsicht, daß es mit Gewalt nicht ging.« Es komme, so fügt er hinzu, eher darauf an, die Menschen zu verführen, in einer »wohlgeordneten« Gesellschaft zu leben, als sie dazu zu zwingen. In dieser Welt sind Leid und soziale Konflikte abgeschafft, es gibt keine Depressionen, keine Illusionen, keine Einsamkeit, keine emotionalen Schwierigkeiten, Sex ist etwas Positives und leicht zu bekommen. Innerhalb der Regierung gibt es sogar ein Ministerium, das dafür zu sorgen hat, daß der Zeitraum zwischen dem Auftauchen eines Wunsches und dessen Befriedigung möglichst kurz gehalten wird. Niemand nimmt die Religion mehr ernst, niemand neigt zu Empfindsamkeit oder verspürt ein unerwidertes Verlangen, niemand liest mehr die Werke von William Shakespeare.

Das Unbehagen, so Fukuyama, das wir bei dieser Vision empfänden, sei seit Erscheinen des Romans 'auf den höheren Schulen [in] wohl einigen Millionen Aufsätzen' umschrieben worden. Deren Credo laute:

Die Menschen der »Schönen neuen Welt« sind gesund und glücklich, aber es handelt sich bei ihnen nicht länger mehr um menschliche Wesen. Sie kämpfen nicht mehr, hoffen nicht mehr, lieben nicht mehr, verspüren keinen Schmerz, treffen keine schwierigen Entscheidungen über moralische Fragen, haben keine Familie und tun nichts von all dem, was wir gewöhnlich mit dem Menschsein in Zusammenhang bringen. … Ihre Welt ist zutiefst unnatürlich geworden, weil die menschliche Natur verändert worden ist.

Fukuyama, dem es um das Entwickeln eines ethischen Standpunktes geht, begründet folgendermaßen, warum man das Gedankenspiel vom Ende des Menschen nicht einfach in die Realität sickern lassen dürfe:

Die Biotechnologie und ein besseres wissenschaftliches Verstehen des menschlichen Hirns versprechen politische Konsequenzen von großer Tragweite. … Wenn wir uns die Instrumente der Sozialingenieure und utopischen Planer des vergangenen Jahrhunderts ansehen, dann erscheinen sie uns unglaublich grob und unwissenschaftlich. Agitation und Progaganda, Arbeitslager und Umerziehung, Freudsche Psychoanalyse, frühkindliche Konditionierung, Behaviorismus – all das waren Werkzeuge, die dazu dienten, aus dem krummen Holz der menschlichen Natur das glatte Material der Sozialplanung zu machen. Keines gründete sich auf Wissen über die neurologische Struktur oder biochemische Basis des Hirns; so gut wie keines begriff die genetischen Ursprünge des Verhaltens, wenn es aber doch der Fall war, dann wußte niemand, was zu tun war, um darauf Einfluß zu nehmen.
All dies wird sich möglicherweise in den nächsten ein oder zwei Generationen ändern. Es bedarf keiner Rückkehr zu staatlich protegierter Eugenik, keiner weit verbreiteten genetischen Manipulation, damit es dazu kommen kann. Die Neuropharmakologie hat nicht nur bereits Prozac gegen Depressionen hervorgebracht, sondern auch Ritalin, um widerspenstiges Benehmen von Kindern unter Kontrolle zu bringen. So wie wir nicht nur Korrelationen, sondern auch molekulare Zusammenhänge zwischen Genen und Merkmalen wie Intelligenz, Aggression, sexuelle Identität, Kriminalität, Alkoholismus und dergleichen entdecken, werden die Menschen ganz sicher erkennen, daß sie dieses Wissen einsetzen können, um bestimmte gesellschaftliche Ziele zu erreichen. Daraus werden sich viele ethische Fragen ergeben, die sich einzelnen Elternpaaren stellen, und darüber hinaus politische Probleme, die eines Tages das staatliche Handeln beherrschen können. Wenn wohlhabende Eltern plötzlich die Möglichkeit haben, nicht nur die Intelligenz ihrer Kinder, sondern auch die all ihrer späteren Nachkommen zu steigern, dann stehen wir nicht nur vor einem moralischen Dilemma, sondern auch vor einem umfassenden Klassenkrieg.

Houellebecqs Protagonist Bruno dagegen fürchtet sich nicht vor dem Ende der Menschlichkeit. Im Gespräch mit seinem Halbbruder Michel – einem genialen Biogenetiker und Physiker – legt er dar, warum Huxley für ihn eine perfekte Gesellschaft beschreibt. Er wisse selbstverständlich:

… dass man Huxleys Welt im Allgemeinen als einen totalitären Albtraum beschreibt und versucht, in diesem Buch eine scharfe Anklage zu sehen; doch das ist reine Heuchelei. Brave New World ist für uns in jeder Hinsicht – sei es, was die genetische Kontrolle, die sexuelle Freiheit, den Kampf gegen das Altern oder die Freizeitkultur betrifft – ein Paradies, in Wirklichkeit ist es haargenau die Welt, die wir anstreben, wenn auch bisher noch ohne Erfolg.

Dazu ergänzt Michel, Huxley habe aus einer großen Familie englischer Biologen entstammt. Sein ältester Bruder Julian Huxley war ein bekennender Eugeniker. 1931, ein Jahr vor Schöne neue Welt, veröffentlichte er das Buch What dare I think. Michel sagt darüber:

Man findet bereits Anregungen zur genetischen Kontrolle und zur Artenverbesserung, einschließlich der der Menschheit, also das, was sein Bruder in dem Roman in die Praxis umgesetzt hat. Und all das wird unmissverständlich als wünschenswertes Ziel hingestellt, dem man entgegenstreben soll.

Während Julian Huxley 1946 zum ersten Generaldirektor der UNESCO ernannt wurde, gilt Aldous durch seine Ideen als theoretischer Begründer der Hippie-Bewegung. 'Er hatte schon immer für die völlige sexuelle Freiheit gekämpft und als einer der Ersten für den Konsum bewusstseinserweiternder Drogen plädiert.' Er sei, so Michel, 'einer der einflussreichsten Denker unseres Jahrhunderts.' 1961, ein Jahr vor seinem Tod, habe er einen Roman mit dem Titel Eiland veröffentlicht. Darin schildere er:

Eine friedliche Gesellschaft, die sich völlig von den familiären Neurosen und den Hemmungen der jüdisch-christlichen Tradition befreit hat. Die Nacktheit ist dort etwas Natürliches; Wollust und Liebe können ungehindert ausgelebt werden. Dieses … Buch hat großen Einfluß auf die Hippies und durch sie auf die Anhänger der New-Age-Bewegung gehabt. Wenn man die Sache etwas genauer betrachtet, hat die harmonische Gemeinschaft, die in Eiland beschrieben wird, vieles mit der Gesellschaft aus Schöne neue Welt gemein. Huxley selbst scheint aufgrund seiner anzunehmenden Verkalkung die Ähnlichkeit nicht wahrgenommen zu haben, aber die in Eiland beschriebene Gesellschaft steht der Schönen neuen Welt ebenso nah wie die libertäre Hippiegesellschaft der liberalen bürgerlichen Gesellschaft oder eher ihrer sozialdemokratischen schwedischen Variante.

Eine letztlich tatsächlich als schön aufgefasste schöne neue Welt der posthumanen Menschen.

(Zitierte Passagen aus: Fukuyama, Francis: Das Ende des Menschen, Stuttgart/München 2002; S. 17ff. u. 32f. und Houellebecq, Michel: Elementarteilchen, Reinbek bei Hamburg 2006; S. 184ff.)